Vitus-Prozession
Die Menschen aus der näheren Umgebung verstehen noch das geradezu liebevolle, ja intime Verhältnis der Willebadessener zu ihrem Ortspatron. Es ist im alten Hochstift Paderborn noch einiges übriggeblieben an Heiligenverehrung, was in anderen Landstrichen eher belächelt als bewundert wird. Da sind die Willebadessener unbeirrt, auch wenn in unseren Tagen die gesellschaftlichen und religiösen Umbrüche das „platte Land" nicht verschonen. „Heile Welt" war Willebadessen nie und ist es heute schon gar nicht. Die geradezu kindliche Begeisterung, ohne jede Aufgesetztheit, ja die ganz ehrliche, tiefe Verehrung des hl. Vitus bedarf der Erklärung.
Erwachsene Menschen verhalten sich vor dem Vitusfest, als würde es bald Weihnachten. Sie sind voller Vorfreude und putzen ihre Häuser heraus; Gärten werden auf Vordermann gebracht. Alles wirkt, als stehe etwas Besonderes an. Das ist sicher in anderen Gemeinden auch so, vor Schützenfesten zum Beispiel, oder vor Libori in Paderborn. In Willebadessen ist aber alles noch ein wenig stärker. Selbst als Willebadessener "außerhalb- oder - wie man auch in Willebadessen sagt - als "Weggezogener" spürt man dieses Kribbeln, wenn der Terminkalender nur noch eine Woche bis Vitus übrig läßt. Da müssen wichtige berufliche Termine mit dem Fest in Einklang gebracht werden oder, wie es mir öfters geht, ich fahre direkt von der Schulentlaßfeier im schwarzen Anzug 200 km nach Willebadessen, um wenigstens das Einläuten des Vitusfestes mitzubekommen. Ein Vitusfest darf man nicht verpassen, das könnte ich mir als Willebadessener nicht verzeihen.
Gewiß, jeder wird das Vitusfest anders erleben und anders darüber denken. Deshalb kann ich nur eine persönliche Sicht vermitteln, aber vielleicht ist es für viele mit dem Vitusfest genauso: der besondere Reiz des Festes liegt für die Willebadessener darin, daß sie sich persönlich von „ihrem Vitus" angesprochen fühlen. Das Einzigartige am Vitusfest ist die Vielfalt der Impulse. Es spricht nicht nur Geist und Verstand, es spricht alle Sinne an. Es rührt mich in einem tieferen Sinne an, berührt das Gefühl. Wenn ich von der Egge kommend Willebadessen am Vitus Samstag im Tal liegen sehe und die Glocken läuten höre, dann habe ich das Gefühl, daß etwas Besonderes passiert. An Vitus komme ich nicht nur einfach mal wieder nach Hause, wie andere von einer Reise zurückkommen - nein, ich kehre zu meinen Wurzeln, zu meinem geistigen Ursprung zurück. Diese Erinnerungen sind so stark, daß ich sofort an meine ersten Vitus-Erlebnisse zurückdenken muß. Als „Schellemänneken" durften wir Jungen bei der Prozession Schärpen tragen und voller Stolz und Inbrunst laut schellend zeigen, daß wir „Vitus-Kinder" waren. Bei den Mädchen waren die Erlebnisse sicher nicht anders. In hübschen Kleidern und mit Kränzchen im Haar durften sie als „Blumenkinder" dabeisein. Daß liebevolle Aufpasserinnen uns auf dem richtigen Weg hielten und zur Ruhe und Andacht ermahnten, konnten wir nur als vergeblichen Versuch einordnen, unsere überschwengliche Freude etwas zu dämpfen. Und wie sich seit Generationen die Bilder gleichen: Vor den Böllerschüssen beispielsweise, die den Segen an den vier Stationen ankündigen, fürchteten sich viele Kinder. Meiner eigenen Tochter geht es nicht anders. Als Zweijährige wußte sie kaum ein Wort richtig zu sprechen, aber mit „Vitus" hatte sie keine Schwierigkeiten, damit kann man ja auch etwas anfangen!Schon Tage zuvor müssen im Wald frische Birken- und Buchenäste geschlagen werden, um den Weg der Prozession zu säumen. Wannenweise werden Blumen gepflückt und frisch gehalten, um die wunderschönen Ornamente auf den Tannenteppich zu zaubern, der die Lange Straße hinunter schon im frühen Morgengrauen gelegt wird. Heute ist es sicher schwieriger, helfende Hände für das Schmücken der Vitusprozession zu bekommen. Ich erinnere mich aber, daß zu meiner Kindheit viele Kinder zu Vitus und Fronleichnam begeisterte Helfer waren. Die nächste wichtige Erinnerung für mich ist die, als Meßdiener dabei gewesen zu sein. Zunächst, wie für die Kleinen üblich, als Kerzenträger vor dem Allerheiligsten, dann als Kohlehalter für den Weihrauch - man brauchte für die gut anderthalb Stunden lange Prozession mindestens sechs bis sieben Kohlestücke -, später als Fahnen- und Kreuzträger ganz vorn. So konnte ich im Laufe der Zeit an ganz verschiedenen Orten immer wieder anders die Prozession miterleben. Beeindruckend war und ist die nicht enden wollende Menschenmenge, die hinter der Tanzkuhle aus dem Wald hervorkommt, wenn man selbst schon unten an den Fischteichen zum Schloß eingebogen ist und zurückschaut. - Und immer wieder das Ergriffensein von der Heiligkeit, wenn unter dem Baldachin das Allerheiligste und vorher der Vitusschrein an den Stationen an der wartenden Menge vorbeiziehen. Den Vitusschrein als junger Schütze bei den St. Johannes Schützen selbst tragen zu dürfen war eine große Ehre und ist für mich auch heute noch eine schöne Erinnerung. Überhaupt, die Verbindung des Vitusfestes mit dem Schützenfest, die Feier von Samstag bis Dienstag, wie es bis vor wenigen Jahren war, ist sicher als eine gelungene Vereinigung von kirchlicher und weltlicher Feier zu sehen.
Heute ist das Schützenfest wegen der gewandelten Arbeitsverhältnisse am Wochenende nach dem Vitusfest, aber das tut dem Vitusfest und dem Schützenfest keinen Abbruch. Weltliches und kirchliches Feiern sind in Willebadessen eng verbunden, es ergänzt und belebt sich gegenseitig. Am Samstagnachmittag treten die Schützen an, nicht nur um den alten Sebastians-König abzuholen und auf dem Schützenberg den neuen Körnig zu schießen. Vorher wird in einer feierlichen Erhebung der Reliquien mit Prozession und Andacht der Schrein des hl. Vitus, der „kleine Vitus", wie er liebevoll genannt wird, aus der Gründerkapelle in die Kirche getragen. Und wenn am Abend die Schützen laut singend den Schützenberg hinuntermarschieren - manche schaffen das kaum noch, weil sie den neuen König oder sich zu stark „begossen" haben -, so hört man tags darauf aus den gleichen Kehlen mit voller Inbrunst das „Gruß dir Vitus, holder Knabe" im Vitushochamt.Ein alter Willebadessener, der in Dortmund lebt, kam vor einigen Jahren vor der Andacht in eine Gaststätte mit dem Gruß „Froher Vitus allerseits", in Anlehnung an unser bekanntes „Frohe Weihnachten" oder „Frohe Ostern". Besser kann der Stellenwert dieses Vitusfestes nicht beschrieben werden. Daß zu den Festtagen Freunde, Verwandte und Bekannte eingeladen werden, die gern jedes Jahr im Juni die Zeit finden, nach Willebadessen zu kommen, macht das Fest zu einem lokalen „Großereignis". Der Religionspädagoge Hubertus Halbfas hat ein solches „Gemeindefest" mit einem Baum verglichen. Darin steckt viel Wahrheit: Das Vitusfest hat tiefe Wurzeln, es ist ein traditionelles Fest, ein Fest, das aus vielen Zeichen und Gesten und althergebrachten Handlungsmustern besteht - wie eine Baumkrone, unter der sich Verschiedenartiges vereint.
Nicht ohne Grund ist die Gestaltung der Gottesdienste, der Zeremonien und Gebete des Vitusfestes in Willebadessen stark dem Paderborner Liborifest angelehnt. Der Vitustusch, den der Willebadessener Musikverein erklingen läßt, ist eine Abwandlung des Liboritusches, ebenso das Triduum der Feier: Erhebung der Reliquien am Samstag, das Fest mit Hochamt und großer Prozession am Sonntag und die Rückführung der Reliquien am Sonntagabend, erinnert an das Paderborner Schema des Liborifestes. Das Fest ist so rückgebunden an die Paderborner Kirche, an den Bischof, der 1149 das Kloster Willebadessen aus der Taufe gehoben hat, das geistliches Zentrum des religiösen Lebens in Willebadessen gewesen ist über Jahrhunderte hinweg. Die Begleitung des Reliquienschreins durch die beiden Schützenbruderschaften bis in die Kirche und die Teilnahme der Schützen an den Gottesdiensten und der Prozession drückt diese tiefe traditionelle Bindung aus. Der Zweck der Gründung der Schützenbruderschaft der St. Sebastianer im 16. Jahrhundert war ein kirchlicher, diente aber auch den Bedürfnissen der Stadtbewohner nach Schutz in unsicherer Zeit. Aufgabe der Bruderschaft war neben anderen, durch Sammeln von Sachspenden die Kerzen der Kirche zu finanzieren. Heute wird in Abwandlung dieser ursprünglichen Aufgabe von den Jungschützen im sogenannten Eiersammeln genau diese Tradition unbewußt weitergeführt. Daß die Vitusprozession durch Stadt und Flur von Willebadessen führt, wie eine Flurbegehung, versichert die Menschen auch heute noch der ihnen anvertrauten Erde. Sie bringt den Menschen ihre Aufgabe ins Bewußtsein, Gottes Schöpfung zu bewahren und sie zu ehren. Wer von der Vituskapelle aus auf den Eggewald blickt, ahnt darüber hinaus etwas von der Schönheit und Feierlichkeit der von Gott geschaffenen Natur.
Wir Willebadessener feiern dieses Fest so traditionell wie unsere Vorfahren vor vielen Generationen. Eine Verbundenheit über den Tod hinaus, ein Band, das alle Willebadessener verbindet in ihrem Vitusfest, ob sie leben oder tot sind - das wird sinnfällig, wenn bei der Prozession am Friedhof die erste Station gehalten wird und nach der Prozession die Schützen mit der feierlichen Kranzniederlegung die Gefallenen der Kriege ehren. Es gibt etwas, was über alle Veränderungen die Menschen verbindet, was Geborgenheit und Sicherheit bedeutet, was - wie die Erde für den Baum - ein fester Grund ist, in dem man Halt und Nahrung findet für den eigenen Lebensweg. Darum holt man sich - und das sieht man in Willebadessen noch heute - den hl. Vitus an und in die Häuser. Beispiele mögen Glasfenster sein, die im Stil der 60er Jahre den hl. Vitus als Schutzpatron abbilden, Holz- und Steinfiguren, die an den Häusern angebracht sind. Altes und Neues ist im Vitusfest zu finden. Sei es, daß seit einigen Jahren am Vitustag an der Vituskapelle selbst ein Gottesdienst unter freiem Himmel gehalten wird - eine Tradition, die sehr gut angenommen worden ist -, sei es, daß neue Lieder mit modernen Texten und Melodien gesungen werden. Eine noch nicht ganz fünfzig Jahre alte Tradition ist das Vitusmahl, zu dem sich der Kirchenvorstand und die Willebadessener Vertreter der politischen Gemeinde am Vitustage nach der Meßfeier an der Vituskapelle treffen, um ihre gegenseitige Verbundenheit zu dokumentieren. Kirchliche und weltliche Vertreter Willebadessens sind hier im Vitusmahl vereint.Das Vitusfest ist wie ein Baum, der in vielen Jahresringen gewachsen ist, darin liegt der Schatz dieses Volksfestes im guten Sinne des Wortes verborgen. Die Heiligenverehrung, früher sicher als Vorbildfunktion den Menschen zugedacht, könnte man auch heute als eine Möglichkeit sehen, im Pfarr- und Stadtpatron Vitus die eigene Identität, also das, was man ist, d. h. letztendlich, den Sinn des eigenen Lebens zu ergründen und zu finden.
Die Vita des hl. Vitus ist sehr stark mit Legenden überdeckt. Aber was von seinem kurzen Leben überliefert ist, ist doch dieses, daß der hl. Vitus die Kraft hatte, gegen alle Widerstände seiner Umwelt an seinem erlebten Glauben festzuhalten. Wir alle wissen, das ist heute nicht einfach, genauso wenig wie zur Zeit des hl. Vitus. Das Bild des Heiligen, der keine Maske aufsetzt, der nicht klein beigibt, der den Mut und den Willen hatte, als Jugendlicher gegen den Zeitgeist seine christliche Überzeugung zu verteidigen, das kann Identität stiften, das kann auch das eigene Leben mit Sinn erfüllen. Vitus hat sich vom christlichen Glauben und von den Beispielen der christlichen Liebe prägen lassen. Vitus und sein Fest prägen auch heute noch Generationen von Menschen.
Man ist beeindruckt von der ländlich-bodenständigen Kraft des Glaubens. Das Vitusfest steckt an, wie der Glaube ansteckend wirkt. Wenn man Menschen fragt, die Willebadessen kennen, dann verbinden sie Willebadessen immer mit Vitus und dem Vitusfest. Immer wieder hört man, daß man sich seinem würdevollen Charme kaum entziehen kann. Man kann als Außenstehender nicht so schnell zum "brennenden" Vitusverehrer werden, aber man kann vielleicht erahnen, was ein solche, Fest bedeuten kann für die Menschen in Willebadessen, vor allem für jene, die dort ihre Wurzeln haben. Ihre gemeinsame Heimat, ihre geistige Wurzel, ist die Verehrung des hl. Vitus, über Raum und Zeit hinweg. Das Erlebnis des Vitusfestes ist eine Versicherung, die einem immer wieder zeigt, wo man im wahrsten Sinne des Wortes "zu Hause" ist.
Heinrich Sprenger